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Energiemärkte

Erste Unternehmen schlagen Alarm, aber EU-Toolbox ohne passendes Werkzeug für die Industrie.

4. Nov. 2021

Angesichts der europaweiten Explosion der Gas- und Strompreise haben erste Unternehmen Alarm geschlagen und staatliche Unterstützung gefordert. Die Politik scheint nicht abgeneigt, seit Tagen wird auf europäischer Ebene über eine „Toolbox“ diskutiert. Die einzelnen Werkzeuge sind zwischen den Ländern umstritten; am Freitag soll auf dem EU-Gipfel eine Lösung gefunden werden. Wenn man einen genaueren Blick in den Werkzeugkasten wirft, stellt man allerdings fest, dass für energieintensive Unternehmen kein passendes Tool dabei ist. Aufgrund der vielschichtigen Struktur der Strom- und Erdgasvollkosten und verschiedener Entlastungskonstellationen in der Industrie gibt es auch gar nicht den einen großen Stellhebel.

Erste Unternehmen rufen nach Staatshilfe.

Wegen der hohen Energiekosten haben erste Unternehmen Alarm geschlagen. Vor allem den energieintensiven Branchen wie Stahl, Chemie, Aluminium und Zement machen die stark gestiegenen Energiepreise zu schaffen. Salzgitter erklärte letzte Woche, dass Produktionseinschränkungen nicht ausgeschlossen seien. Ein Sprecher von Heidelberg Cement kündigte Preiserhöhungen an: „Eine derartige Kostenexplosion ist einmalig. Wir sind gezwungen, kurzfristig die Preise deutlich anzuheben.“ Derweil forderte der Chef der Swiss Steel Group, Frank Koch, im SPIEGEL die Unterstützung des Staates ein: „Wir brauchen jetzt unmittelbar eine Entlastung.“ Auch Koch hält einen Stopp der Produktion oder die Verlegung für denkbar. Wie der SPIEGEL in einem weiteren Artikel schrieb, sagte Koch in einer vertraulichen Runde mit Noch-Wirtschaftsminister Altmaier, man dürfe bei aller Diskussion über die Zukunft 2021 nicht vergessen. „Das Hier und Jetzt steht leider nicht im Fokus,“ kritisierte er die Bundesregierung. Der Betriebsratschef von Thyssenkrupp, Tekin Nasikkol, schloss sich laut SPIEGEL der Argumentation an: „Uns brennt der Frack.“

Laut SPIEGEL-Bericht habe Altmaier zugesagt, sich für neue Staatshilfen stark zu machen, wenn es nicht anders gehe. Er könne sich vorstellen, dass die noch amtierende Bundesregierung bei Preisen von über 40 €/MWh finanziell einspringe. „Solange die Strompreise sich nicht auf einem mittelfristig berechenbaren und kostengünstigen Niveau stabilisieren, müssen wir als Industrie die stark fluktuierenden Kosten auf unsere Preise aufschlagen“, kündigte Koch an. Angedacht sei, die Preise an die Energiepreisentwicklung zu koppeln. Nur so könne man sich als Unternehmen vor stark fluktuierenden Preisen schützen.

EU-Gipfel droht hitzige Debatte über Toolbox.

Derweil ist man sich in den Hauptstädten Europas über die Maßnahmen zur Eindämmung der steigenden Energiepreise uneinig. Auf dem EU-Gipfel Ende der Woche in Brüssel droht daher ein hitziger Streit über Eingriffe in die Energiemärkte, die Zukunft der Atomkraft und die künftige Rolle Russlands. Die slowenische EU-Ratspräsidentschaft hat vorsichtshalber schon für den 26. Oktober zu einem Sondertreffen der Energieminister eingeladen. Bundeskanzlerin Angela Merkel äußerte sich gestern zurückhaltend zu den Vorschlägen der EU-Kommission. Bei diesem Thema seien „einige Fragen noch nicht abschließend beantwortet.“ Wie die Debatte über die hohen Energiepreise beim Treffen der EU-Staats- und -Regierungschefs verläuft, ist daher kaum vorherzusagen.

Laut einer internen Analyse der Bundesregierung, über die die F.A.Z. gestern berichtete, stößt die „Toolbox“ zwar auf breite Unterstützung. „Es gab grundsätzlichen Konsens bezüglich der Maßnahmen für vulnerable Haushalte und betroffene Unternehmen sowie für eine Erhöhung der Energieeffizienz und den weiteren Ausbau der erneuerbaren Energien und Elektrizitätsspeicher“, heißt es in dem Bericht. Jenseits der Einigkeit zu kurzfristigen Hilfen und eines allgemeinen Bekenntnisses zum Green Deal sei der Unmut groß. Das besonders stark getroffene Spanien sei „stinksauer“, dass die Kommission alle weitergehenden Vorschläge hat „abtropfen lassen“, wie es in Diplomatenkreisen heißt. Auch Frankreich, Griechenland, Rumänien, Tschechien und Ungarn sind ungehalten. Die Kommission habe zwar zugesagt, die Vorschläge verschiedener Staaten „zu prüfen“. Das jedoch wird in den betroffenen Hauptstädten wohl nicht ganz zu Unrecht als faktische Absage verstanden. Dabei gehe es vor allem um die von Frankreich und Spanien erhobene Forderung, den Strom- vom Gaspreis zu entkoppeln. Der Preis hängt in der EU bisher davon ab, wie viel der teuerste zur Stromgewinnung eingesetzte Energieträger kostet. Derzeit „gingen nur 6% des EU-Gasverbrauchs in die Stromproduktion, und trotzdem diktiere der hohe Gaspreis die Strompreise“, kritisiert Ungarn laut F.A.Z. Frankreich und Griechenland hätten sich dafür ausgesprochen, dass der Preis die durchschnittlichen nationalen Produktionspreise besser widerspiegeln müsse. Spanien könnte dann wegen seiner erneuerbaren Energieträger mit niedrigeren Preisen rechnen, Frankreich würde davon profitieren, weil es 70% seines Stroms aus günstiger Kernkraft gewinnt.

Interessensgeleitete Debatte über Strommarktdesign.

Die Orientierung an den durchschnittlichen Produktionspreisen würde allerdings das 2015 eingeführte „Design“ des EU-Strommarkts grundlegend ändern. Das sogenannte Grenzpreissystem führt dazu, dass der Preis niedrig ist, solange die Nachfrage aus günstigen Wind-, Wasser-, Solar- oder auch Kernkraftwerken bedient werden kann. Dieses System erlaubt es, dass der Preis bei Stromknappheit so stark steigt, dass sich der dann nötige Einsatz von Kohle- und Gaskraftwerken rechnet. Dieser hohe Preis macht es wiederum für die Anbieter von Wind- oder Sonnenkraft attraktiv, weiter in den Ausbau zu investieren. Entsprechend kritisch sieht die Kommission auch, wenn nun Länder wie Spanien die Gewinne abschöpfen wollen, die die Betreiber von Wind- und Sonnenkraftanlagen momentan machen. Im Übrigen wäre eine auch in der Wissenschaft umstrittene Änderung des Strommarktdesigns keinesfalls eine kurzfristige „Low hanging fruits“-Maßnahme, sondern müsste mit Bedacht und unter Berücksichtigung der vielschichtigen Auswirkungen geprüft werden. Die von Ungarn bei der Aussprache der Staaten vorgetragene Behauptung, der Markt versage, weil der Gas- den Strompreis diktiere, wird von der Kommission ausdrücklich nicht geteilt und ist für Marktkenner erkennbarer Unsinn. Ohne wettbewerbliche Energiemärkte lägen die Preise noch höher, betont die EU-Kommission zu Recht und kann sich der Unterstützung der Bundesregierung sicher sein. „Ein Marktversagen und eine akute Gefährdung der Versorgungslage könne man nicht erkennen. Deshalb schienen Markteingriffe nicht angezeigt“, heißt es in der internen Analyse.

Kein passendes Werkzeug für die Industrie in der Toolbox.

Was ist nun konkret in dem von der EU-Kommission bereitgestellten Werkzeugkasten für Mitgliedsstaaten enthalten? Nun, vor allem mehr Freiraum für staatliche Hilfen an Haushalte und Unternehmen, denn die Energiepolitik liegt in weiter Teilen noch immer in nationaler Hand. Außerdem werden auch Überlegungen angestellt, wie die europäischen Energiemärkte gestärkt werden könnten. Wirklich neue Werkzeuge hat die Kommission allerdings nicht auf Lager. Die Kommission möchte den Mitgliedsstaaten ermöglichen, einkommensschwache Haushalte durch direkte Zahlungen zu unterstützen, indem Energierechnungen bezahlt oder gestundet werden. Besser wären aus Sicht der Kommission allerdings Pauschalzahlungen an Verbraucher, „um den Anreiz zur Senkung des Energieverbrauchs zu erhalten“. Wie die Mitgliedsstaaten dies finanzieren, bleibt ihnen überlassen. Auch direkte Hilfen für Unternehmen sollen möglich sein, solange diese „den Wettbewerb nicht unangemessen verzerren und zu einer Fragmentierung des Binnenmarktes führen“ und sie technologieneutral sind. Die Kommission wolle bei der noch laufenden Überarbeitung ihrer Leitlinien für Energie- und Umweltbeihilfen, über die enplify ausführlich berichtet hat, darauf achten, dass Staaten auch in Zukunft Unternehmen mit sehr hohen Energiekosten unterstützen können. Zugleich mahnte sie: Die Kommission werde „nicht zögern, bei möglichen Verstößen gegen die EU-Wettbewerbsregeln einzuschreiten“.

Als weitere Möglichkeit wird die Absenkung von Energiesteuern auf die laut EU-Energiesteuerrichtlinie erlaubten Mindestsätze genannt. Hintergrund: Die meisten Mitgliedsstaaten, darunter Deutschland, besteuern Gas, Strom und andere Energieträger weit höher als das vorgegebene Minimum. Die Schaffung einer gemeinsamen, europäischen Gasreserve, wie sie Spanien wünscht, möchte die EU prüfen. Allerdings weist die Kommission darauf hin, dass die Verordnung zur Sicherung der Gasversorgung durchaus einen Solidaritätsmechanismus enthält, der „in extremen Gaskrisensituationen aktiviert wird“. Nötig sei das aber derzeit nicht, die Gasspeicher der EU seien zu 71 Prozent befüllt, auch wenn das weniger sei als die üblichen 90 Prozent zu dieser Jahreszeit. Es bestehe „kein unmittelbares Risiko für eine kurzfristige Unterbrechung der Versorgung“. Das alles mögen sinnvolle Maßnahmen gegen Energiearmut sein. Nur helfen die Instrumente der Industrie wenig – mit Ausnahme von Staatshilfen. Ob die wirklich kommen, lässt sich heute nicht beurteilen.

Unser Fazit: Deal mit Russland wichtiger als die Toolbox.

Die EU-Toolbox enthält wenig Neues und richtet sich vor allem an Privatverbraucher. Während Europa über die Werkzeuge streitet, sollte die amtierende Bundeskanzlerin endlich das tun, was sie gut kann: In den Krisenmodus gehen und sich auf das Machbare konzentrieren. Konkret geht es um zwei Dinge: Einen Deal mit Russlands Präsident Wladimir Putin verhandeln, der für zusätzliche Gaslieferungen und damit eine schnelle Entlastung auf der Angebotsseite sorgt, und die Strom- und Erdgasnebenkosten in Deutschland auf das Minimum senken. Dazu gehören neben der Strom- und Energiesteuer auch der nationale CO₂-Preis.

Nur den zweiten Punkt hat die Bundesregierung selbst in der Hand. Beim ersten Punkt sind wir auf einer Linie mit Grünen-Co-Chef Robert Habeck, der die noch amtierende Bundesregierung am Wochenende aufgefordert hat, mit Moskau über die russischen Gaslieferungen zu sprechen: „Die Speicher sind nicht voll und die Nachfrage ist hoch. Die noch amtierende Bundesregierung sollte schnell mit Russland reden, dass sich das ändert.“ Und weiter: „Russland scheint so eine Art Pokerspiel mit uns zu spielen. Aber das ist eine außenpolitische Frage, die die amtierende Regierung ja mindestens noch verhandeln kann.“ Aufgrund ihrer langjährigen Beziehung zu Putin und ihrem Verhandlungsgeschick wäre Merkel bestens geeignet, einen akzeptablen Deal mit dem russischen Präsidenten zu vereinbaren. Wenn sich die Angebotsseite entspannt, brauchen wir auch keine Werkzeuge aus der Toolbox mehr.

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